J. Trinkert: Marienkrönungsretabel in Källunge (Gotland)

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Titel
Das Marienkrönungsretabel in der Kirche zu Källunge (Gotland) und seine mecklenburgische Provenienz. Eine Studie zu Kunstproduktion und Werkstattorganisation im spätmittelalterlichen Ostseeraum


Autor(en)
Trinkert, Julia
Reihe
Kieler Kunsthistorische Studien, N.F. 13
Erschienen
Kiel 2011: Verlag Ludwig
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Voss, Hauptkonservator i.R., Schwerin

Die vom Ludwig-Verlag herausgegebenen Kieler Kunsthistorischen Studien sind um einen Band reicher: Julia Trinkert hat ihre Magisterarbeit zu einem reich bebilderten Arbeitsbuch aufbereitet, so dass die Abbildungen beim Vergleichen sowohl der Skulpturen als auch der Tafelbilder Werkstattzusammenhänge erkennen lassen. Insbesondere die Apostel- und Heiligenfiguren in den Kastenflügeln führen zwanglos zu Werkstattgruppen, das heißt Entstehung in derselben Werkstatt, oder zu Meister-Mitarbeiter-Verhältnissen; beispielsweise prägen die gleichen Physiognomien Apostelfiguren im Conrad-Loste-Schrein (1495) im Schweriner Dom und im Schrein der Kirche zu Källunge (Gotland).

In den Szenen der Tafelbilder fällt auf, dass die Räume nach dem gleichen zentralperspektivischen Schema und aus den gleichen Bauelementen aufgebaut sind (vergleiche die Szenen „Zwölfjähriger Jesus im Tempel“ auf dem rechten Malflügel in Källunge und an gleicher Stelle im Hochaltarretabel der Marienkirche zu Parchim).

Dass die Bemühungen Julia Trinkerts durch entstellende Farbfassungen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erheblich erschwert werden, zeigt der Marienschrein in der Dorfkirche in Frauenmark bei Parchim: Man ahnt, dass das Gesicht der Madonna – gestrecktes Oval mit hoch ausrasiertem Haaransatz – dem Gesicht der Maria in der Marienkrönungsszene in Källunge (Gotland) recht ähnlich gewesen sein könnte.

Es gelingt jedoch nicht, für die Hauptszene in Källunge – die Marienkrönung – eine vergleichbare Gruppe in Retabeln mecklenburgischer Kirchen zu finden. In Retabeln Wismarer Produktion wurde diese Szene auf die beiden Personen Christus und Maria reduziert: Christus segnet die gekrönte Maria (Wismar, St.-Georgen-Hochaltarretabel; Kirchdorf auf Poel; Roggendorf bei Gadebusch [ehemals Müsselmow: im Schriftsatz der Bekrönung die Jahreszahl „1497“]; Wittenburg, Landkreis Ludwigslust; Zurow bei Wismar).

Darstellungen mit Gottvater sind nur im Hochaltarretabel der ehemaligen Stiftskirche in Bützow und in der Dorfkirche in Eixen (Landkreis Vorpommern) zu finden. Das Retabel in Bützow wurde 1503 von Bischof Conrad Loste gestiftet und wird von der Forschung der Werkstatt Henning von der Heyde in Lübeck zugeschrieben; die Gesichter zeigen Züge wie die Figuren in Källunge. Der Schrein in Eixen ist erst in den 1530er-Jahren entstanden – in Abhängigkeit zur Werkstatt Claus Bergs.

Nimmt man die Schleierbretter beziehungsweise die Baldachine als Nachweis für ein und dieselbe Schreinerwerkstatt so fällt einerseits auf, dass der Typus „gestelzte Rundbögen durchsteckt in eine Rechteckrahmung mit gleicher Profilierung“ in allen Retabeln Wismarer Kirchen, die Julia Trinkert zum Vergleich herangezogen hat, vertreten sind (jedoch nicht ausschließlich: vergleiche Thomasretabel, Martin-Georg-Retabel und Schifferretabel) – andrerseits ist unübersehbar, dass die Musterblätter mit Vorlagen für Schleierbretter oder Baldachine sehr variabel genutzt worden sind. Einen üppigen Wechsel demonstriert das Hochaltarretabel der St.-Marien-Kirche in Parchim.

Archivalisch sind Werkstätten für Wismar nachweisbar, die bis nach Parchim und in die Priegnitz lieferten. Der einzige deutschsprachig erhaltene Werkvertrag bezeugt (von Julia Trinkert nicht erwähnt), dass der Rat der Stadt Parchim 1421 den in Wismar ansässigen Maler Hennig Leptzow beauftragt, für die St.-Georgen-Kirche ein Altarretabel anzufertigen. Somit scheint Parchim als Produktions- und Exportort für sakrale Bildwerke auszuscheiden. Ob am Bischofssitz in Schwerin Maler und Bildhauer ansässig waren, die im Auftrage des Bischof Conrad Loste die Altarretabeln für den Dom und die Stiftskirche in Bützow anfertigten, ist archivalisch nicht belegt, aber nicht völlig auszuschließen, zumal auch die Herzöge als Auftraggeber – wie für das Hochaltarretabel im Dom zu Güstrow – aufgetreten sind.

Das Altarretabel in Bützow ist in seinem gesamten Aufbau erstaunlich gut erhalten: Predella und Mittelschrein bilden durch die beidseitigen Standflügel, deren Außenkanten von Strebepfeilern gehalten werden, mit dem Bekrönungskasten (mit lateinischem Schriftsatz) eine konstruktive Einheit, wie sie auch an Retabeln Wismarer Produktion nachweisbar ist, beispielsweise an dem Verkündigungsretabel aus der St.-Georgen-Kirche (sogenannte Zaschendorfer Altar in der Heiliggeistkirche zu Wismar) oder dem Passionsretabel in der Dorfkirche zu Garwitz bei Parchim. Auch an dem Thomasretabel in der Nikolaikirche zu Wismar beziehungsweise auf der Deckplatte der Predella (sie wird von Julia Trinkert nicht erwähnt) sind noch Spuren eines solchen Retabelaufbaus zu erkennen: Auf der Deckplatte sind an beiden Enden Nuten zum Einsetzen der Seitenwangen oder Strebepfeiler wie in Bützow eingearbeitet. An Rostocker Retabeln sind derartige Konstruktionen nicht zu finden. Auch der Aufbau des Hochaltarretabels in der St.-Marien-Kirche in Parchim scheint ehemals in dieser Art konstruiert worden zu sein, doch bedarf diese Vermutung einer Überprüfung.1

Julia Trinkert zitiert die Auskunft des schwedischen Restaurators Carl Henrik Eliason, aus der man schließen könnte, dass auch der Schrein in Källunge ehemals Seitenwangen besaß (auf Tafel 1 und 2 erkennbar), die zur Stabilisierung des Retabelaufbaus zwischen Predella und Bekrönung eingefügt waren (S. 11–12). Dieses Indiz würde die Vermutung, dass das Källunger Retabel in Mecklenburg entstanden ist, bestärken.

Vergleichen wir die Tafelbilder in Bützow und Parchim mit denen in Källunge, so kann man Julia Trinkert nur zustimmen, dass hier dieselben Maler tätig waren: Die Tendenz, die Räume zentralperspektivisch aus gleichartigen Elementen aufzubauen, wurde bereits erwähnt. Nahezu identisch sind die Darstellungen „Zwölfjähriger Jesus im Tempel“ in Källunge und in Parchim: Die Maler müssen dort wie hier dasselbe Musterblatt genutzt haben. Auffällig sind auch die länglich ovalen Gesichter der Frauen mit hoher Stirn und auf der Schädelkalotte angeordnetem Haaransatz.

Das Hochaltarretabel im Dom zu Güstrow kann nicht in einen Werkstattzusammenhang mit den genannten Retabeln gesehen werden. Die zweigeschossige Teilung für Stand- und Sitzfiguren wäre solitär. Dieses Kreuzigungsretabel ist wahrscheinlich in einer Rostocker Werkstatt entstanden, wo in drei bis vier aufeinanderfolgenden Generationen „figurenreiche Kreuzigungsretabeln“ gefertigt worden sind.

Die Suche nach der Stadt, in der die Werkstatt ansässig war, in der die Retabeln in Bützow, Källunge und Parchim (St.-Marien-Kirche) sowie die Holzskulpturen im Schweriner Conrad-Loste-Retabel gefertigt sein könnten, muss solange ohne Ergebnis bleiben bis aus bislang unbekannten Archivalien eindeutig ein Nachweis für eine Auftragserteilung oder Abrechnung geführt werden kann.

Ein Schwerpunkt dieser Publikation liegt in der Beobachtung arbeitstechnischer Indizien und den daraus gewonnenen Erkenntnissen von Werkstattzusammenhängen. Zum einen sind es holztechnologische Angaben, zum anderen Anmerkungen zur Fasstechnik an Skulpturen und Bildtafeln.

Ausführlich wird auf die Imitation textiler Strukturen eingegangen, insbesondere auf die Riefelung des Kreidegrundes, um Goldfadengewebe zu imitieren. Jedoch darf die folgende Feststellung in Frage gestellt werden: „Eigentlich gilt die Riefelungstechnik als Spezifikum für Lübeck im engeren Sinne.“ (S. 103) Die Riefelungstechnik war im späten 15. Jahrhundert eine von Fassmalern allgemein angewandte Technik, selbst Rotgießer schnitten diese Strukturen in Grabplatten, um die dargestellte Person vor einem realistischen Vorhang anwesend erscheinen zu lassen (beispielsweise Halberstadt, Dom. Grabplatte des Dompropstes Balthasar von Neuenstadt [gestorben 1516], Werkstatt Hermann Vischers des Jüngeren).

Es ist das Verdienst des Kieler Professors Dr. Uwe Albrecht – Lehrer von Julia Trinkert –, dass er seine Studierenden anleitet, die Holzverbindungen mittelalterlicher Altarretabeln zu beachten und als Indiz für Werkstattzusammenhänge zu bewerten. Im Lehrbetrieb einer Universität kann dies natürlich nur theoretisch erfolgen. Dieses Wissen mit eigenen praktischen Erfahrungen in einer Holzwerkstatt (beispielsweise bei Möbelrestauratoren) zu untersetzen, kann man jedem Studierenden der Kunstgeschichte nur dringend empfehlen. Dann würde die falsche Verwendung von Fachbegriffen ausbleiben. Beispielsweise wird der Begriff „Feder“ (S. 12) für eine Leiste unklarer Funktion verwendet, die an der Seitenwange angesetzt gewesen sein könnte. Im holzverarbeitenden Handwerk wird mit „Feder“ eine dünne, schmale Leiste bezeichnet, mit der beispielsweise Leimfugen einer Tafel stabilisiert werden: In beide zu verleimende Kanten werden „Nuten“ eingearbeitet, in die quasi als Überbrückung der Leimfuge eine Feder eingesetzt wird. Die gleiche Funktion können Dübel erfüllen, wenn sie in Bohrungen eingesetzt werden, die passgenau in beide Kanten der Leimfugen eingearbeitet sind. Die „Holzdübel“ müssen nicht in den Bohrungen „befestigt“ werden (S. 11): Die Übereinstimmung der Durchmesser der Bohrungen mit dem der Dübel ist Voraussetzung für die Festigkeit einer gedübelten Holzverbindung.

Irritierend ist der Begriff „Drehflügel“ für die am Korpus oder Mittelschrein mit Scharnieren befestigten, beweglichen Flügel – ungeachtet, ob die Flügel aus Maltafeln oder Kästen mit eingestellten Skulpturen bestehen. Das „Drehen“ ist die mechanische Voraussetzung für die Wandelbarkeit eines Retabels. Dies gilt für ein Diptychon wie für ein Triptychon oder Pentaptychon. Wäre es nicht für den Leser hilfreich, den betreffenden Flügel entsprechend der künstlerischen Ausstattung eines Retabels zu bezeichnen; ergo für Flügel mit skulpturalem Bildwerk diese als „Kastenflügel“ oder „Flügel mit Reliefs“ (zum Beispiel Flügel des Hochaltarretabels in Cismar) und Flügel mit Maltafeln schlicht als „Flügel“ zu bezeichnen? Der Begriff „Standflügel“ ist unstrittig: Sie füllen bei geschlossenem Retabel die Leerflächen neben dem Mittelschrein oder der Mitteltafel.

Zum Schluss eine ornithologische Anfrage an Julia Trinkert, ob sie je eine Schwalbe mit einem so signifikanten schwarz-weißen Gefieder gesehen hat? So bezeichnet sie den Vogel im dürren Baum am Rande der Begegnung Marias mit Elisabeth (S. 48; Tafel 17): schwarz der Kopf, die Flügel und der aufwärts gestellte Schwanz am blendend weißen Körper. Ob ihr verräterischer Ruf im Mittelalter als Hinweis auf die Grußworte Elisabeths gedeutet wurde?: „Gepriesen bist du unter den Frauen, und gepriesen ist die Frucht deines Leibes!“2 Mit diesem Gruß wurde erstmalig die bevorstehende Geburt des Erlösers öffentlich ausgesprochen. Sollte im Bilde die Darstellung einer Elster mit ihrem unüberhörbaren Ruf diese Verkündigung andeuten?

Julia Trinkerts Arbeit wird den Blick schärfen und die Fragen weitertragen.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Aufnahmen vor der Restaurierung um 1900 in Friedrich Schlie, Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Grossherzogthums Mecklenburg-Schwerin, Bd. 4, Schwerin 1901, nach S. 448.
2 Lk 1, 42–44.